Gastbeitrag: Manifest für eine richtig digitale Verwaltung

8 Dezember 2021   Blog

Simone Carrier aus Berlin gehört zu den Innovations-Expertinnen, welche die civicChallenge-Teilnehmenden in der Finalrunde 2021 begleiteten. Sie hat mit ihrem Kollegen Jan-Ole Beyer ein Manifest für mehr Digitalisierung in der deutschen Verwaltung geschrieben, welches sich auch auf die Schweiz anwenden lässt. Ein Gastbeitrag.

Auch wenn die deutsche Verwaltung an vielen Stellen zuverlässig und viel besser als ihr Ruf funktioniert — die heutige Welt mit ihrer immer grösseren Vernetzung und Veränderungsgeschwindigkeit bedarf einer Anpassung in Arbeitsweisen und Organisationskultur. Zu oft zeigt sich, dass Verwaltung zwar rechtsstaatlich ordentlich verwaltet, aber Schwierigkeiten damit hat, auf Unerwartetes adäquat zu reagieren, Leistungen einfach und verständlich an die Menschen zu bringen und sich dort, wo es erforderlich ist, auch selbst neu zu erfinden. Denn die sicherheitsbewusste Arbeitskultur der Verwaltung zielt oft zu stark auf eine Vermeidung von Risiken und Konflikten.
Aber Risiko-Scheu und Streben nach Sicherheit sind die natürlichen Feinde der Innovation. Wenn wir Regeln nur so eng wie möglich auslegen und ›Das haben wir noch nie so gemacht‹ ein Grundprinzip ist, ist es schwierig, den Status quo weiterzuentwickeln. Wenn wir nur darauf schauen, warum eine Idee nicht umsetzbar ist, statt darauf zu schauen, wie etwas gehen könnte, dann sterben die Ideen bereits lange, bevor wir ausprobieren konnten, ob sie gut sind. Zu einer Verwaltung, die sich digital transformiert, muss daher mehr Bereitschaft gehören, neue Wege auszuprobieren. Mehr ›einfach mal machen‹ und Ausreizen der Regeln. Mehr Mut, auch einmal einen Fehlschlag zu erleiden. Und mehr Selbstverständlichkeit, hieraus reflektiert zu lernen.
Wir glauben, dass Verwaltung und ihre Mitarbeiter*innen genau das lernen müssen. Wir glauben, dass dies die Grundlage für eine bessere Gestaltung von Verwaltungsleistungen ist. Wir glauben, dass nur so der öffentliche Dienst in die Lage versetzt wird, die Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft zu meistern. Dies ist unser Manifest¹.

Nicht nur Technologie, sondern Kultur.
Machen wir uns nichts vor: Das Problem der verbesserungsfähigen digitalen Transformation liegt nur selten in technischer Komplexität. Viel öfter liegt es in überkomplexen Organisationsstrukturen, in überholten Arbeits- und Herangehensweisen und in fehlenden Kompetenzen. Und darin, dass wir viel zu oft analoge Prozesse lediglich ins Digitale überführen, anstatt sie komplett und aus Nutzersicht neu zu entwickeln.
Neben fachlichen sind digitale Kompetenzen für alle Mitarbeiter*innen unumgänglich. »Ich habe es nicht so mit Computern« kann heutzutage nichts mehr sein, womit man kokettiert. Denn das heisst: »Ich bin nicht in der Lage, meine Arbeit mit zeitgemässen Werkzeugen gut zu erledigen.«
Gleichzeitig führt dieses Kokettieren auch dazu, dass wir bei der digitalen Transformation viel zu sehr neue Technologien wie KI und Blockchain in den Blick nehmen, die dann von ›Laboren‹ im geschützten Raum ausserhalb der Gesamtorganisation ausprobiert und nutzbar gemacht werden sollen. Digitallabore und technologisch geprägte Projekte berücksichtigen aber oftmals nicht das grosse Ganze, sondern vor allem einzelne, oft massgeschneiderte ›Leuchttürme‹, ohne sich mit der Übertragbarkeit auf andere Organisationseinheiten zu beschäftigen. Und damit scheitern sie, echte Veränderung wirklich tief und breit in der Organisation zu verankern.
Allzu oft arbeiten wir also an technischen Lösungen, die gerade hip sind und die man als schnellen und öffentlichkeitswirksamen Erfolg verkaufen kann. Die harte und mühsame, wenig werbewirksame Arbeit im Hintergrund hingegen vernachlässigen wir zu oft. Digitale Transformation braucht aber, um nachhaltig Nutzen zu entfalten, Standards und Strukturen — sowohl technologisch als auch organisational und im Design. Angefangen von der praktischen Gestaltung von abteilungs-, ressort- oder ebenenübergreifender Zusammenarbeit bis hin zu einer standardisierten technischen Basis, auf die (Leuchtturm-)Anwendungen aufbauen können. Gemeinsame Infrastrukturen und Plattformen, die verwaltungsebenenübergreifend und auf Basis offener Standards und Schnittstellen sowie zeitgemässer User Experience ermöglichen, Fachdienste auf ihnen aufzusetzen, sind kaum verfügbar. Hier müssen wir ansetzen, wenn Verwaltung nachhaltig digital werden soll.

Nicht nur Lösungen, sondern echtes Problemverständnis.
Wir alle wollen effizient sein und denken sehr schnell sehr lösungsorientiert, wenn wir an Problemen arbeiten. So kann es passieren, dass man eine Lösung im Kopf hat und lieb gewinnt, obwohl diese gar nicht unbedingt das zugrundeliegende Problem löst. Denn als Lösungsveranwortliche:r hat man fast immer einen sehr eingeschränkten Blickwinkel auf das Problem, der sich zumeist auch deutlich von dem der Nutzer*innen unterscheidet. Richtig ist es deshalb, aktiv einen Schritt zurückzugehen und erst einmal bewusst und systematisch das Problem unter die Lupe zu nehmen. Nutzerforschung und quantitative Daten helfen dabei, das Problem aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten und zu verstehen. Das bietet die faktenbasierte Basis, um offen verschiedene Lösungsvarianten zu entwickeln.
Aber damit nicht genug. Denn damit wir Nutzen und Nützlichkeit einer (Problem-)Lösung objektiv bewerten können, müssen wir klare und messbare Kennzahlen definieren. Zu einer menschenzentrierten Gestaltung im Sinne des Service Designs gehört ganz vorne: Messbarkeit. Nur wenn wir messen, können wir erkennen, welcher Weg weitergegangen werden sollte und wo wir nachsteuern müssen. Nur wenn wir faktenbasiert arbeiten, können wir rationale und von eigenen Vorurteilen abstrahierte Entscheidungen treffen. Und wie will man Erfolg und echten Nutzen sonst feststellen als auf Basis wohl definierter und geeigneter objektiver Kriterien? Übrigens: Dazu gehört es dann auch zu entscheiden, ein Projekt mangels Erfolg wieder einzustampfen.

Nicht nur Gremien und Hierarchien, sondern Nutzerinnen.
Zum guten Ton gehört es, die so genannten ›Stakeholder‹ in ein Projekt einzubeziehen und zu berücksichtigen: Verbände, andere fachlich zuständige Referate oder Verwaltungen, Datenschützer et cetera. Einer Stakeholdergruppe jedoch hören wir meist viel zu wenig zu: den Nutzerinnen. Dabei sind sie eigentlich viel wichtiger als alle anderen. Sie sind es, die am Ende darüber entscheiden, ob die entstehende Lösung erfolgreich ist. Denn das ist sie nur dann, wenn sie tatsächlich genutzt wird.
Deshalb sollte immer das Credo gelten: Binde alle Stakeholder ein, aber höre im Zweifel und in Konflikten auf die Nutzerinnen. Kurz: ›Nutzerinnen first, Hierarchie second‹. Das beinhaltet übrigens oft mehr Gruppen, als man auf den ersten Blick bedenkt: So werden zwar immer öfter zum Beispiel Bürgerinnen einbezogen, aber die ganze Breite eines Verwaltungsprozesses und damit die Kolleginnen in den Fachbehörden als Nutzer*innen einer Lösung werden oftmals noch übersehen.
Nur wenn dieser Bewusstseins- und Entscheidungswandel in einer Organisation konsequent und breit verinnerlicht wird, gelingt es, den allzu modernen Begriff der ›Nutzerzentrierung‹ wirklich zu leben.

Nicht nur theoretisch planen, sondern praktisch ausprobieren.
Das klassische Wasserfall-Modell setzt darauf, eine Lösung erst bis ins Detail zu planen und dann »nur noch« umzusetzen. Das ist in der Verwaltung immer noch der gängigste und am weitesten verbreitete Ansatz, um Aufgaben anzugehen und Probleme zu lösen. Er ist aber in den meisten Fällen ineffizient und mit hohem Risiko behaftet, dass die Lösung nicht erfolgreich sein wird — jedenfalls dann nicht, wenn man Nutzung und Akzeptanz als wesentliche Erfolgsfaktoren berücksichtigt.
Deswegen setzt der zeitgemäße agile Ansatz darauf, in kleinen Iterationen Schritt für Schritt Teilprobleme anzugehen, zu lösen und dann gemeinsam mit den Nutzerinnen zu testen, ob die Lösung funktioniert. Lange Diskussionen im theoretischen Raum können wir durch praktisches Testen abkürzen. Es gilt: Tests und Feedback von Nutzerinnen sind zentral, um ein gutes Produkt zu entwickeln und Risiken von Fehlinvestitionen zu managen. Folgt man dem Prinzip des frühen Testens von Prototypen und Entwürfen, fällt es leichter, mutig zu sein, neue Wege auszuprobieren oder gar einen Fehlschlag zu erleiden. Denn man bewegt sich dank Prototypen im sicheren Raum.
Das gelingt aber nur, wenn wir die Scheu ablegen, auch ›unfertige‹ Lösungen, die noch nicht alle Anforderungen erfüllen, öffentlich zur Diskussion zu stellen und Feedback aktiv in die stetige Weiterentwicklung einzubeziehen. Denn im Konfliktfall zwischen Nutzerfeedback und Lastenheft, Anforderungskatalog oder Konzept ist immer ersteres zu priorisieren. Nur dann wird ein Produkt wirklich erfolgreich sein — auch in der Verwaltung.
Übrigens: Damit kommt man auch ganz automatisch von einem ›Projekt‹- zum ›Produkt‹-Denken. Denn das, was da nach und nach iterativ entwickelt wird, ist niemals ›fertig‹. Stattdessen wird es laufend Weiterentwicklungen und Verbesserungen geben. Deswegen muss die Verwaltung wegkommen von (zeitlich befristeten) Projektteams und hinkommen zu (langfristig verantwortlichen) Produktteams.

Nicht nur eine Sichtweise, sondern verschiedene Blickwinkel.
Innerhalb der Verwaltung arbeiten viele Menschen mit jahrelanger Erfahrung und unglaublich tiefgehender Expertise. Das ist sehr wertvoll und ein definitiv positiver Aspekt von aktueller Verwaltungskultur. Manchmal aber hindert dieses Wissen daran, Dinge aus einer anderer Perspektive zu sehen, weil lange Beschäftigung mit einem Thema eben oft den eigenen Blickwinkel verengt. Deshalb ist Diversität in allen ihren Aspekten ein essentieller Faktor, um Potentiale für Verbesserungen zu identifizieren. Andere kulturelle Backgrounds, andere Lebens- und Arbeitserfahrungen, anderes Lebensalter oder andere Herangehensweisen und Denkmuster helfen genau wie Neugierde und Offenheit dabei, einen frischen Blick auf die Dinge zu werfen. Damit die Arbeit im Team dann richtig gut funktioniert, gehört das Mensch-Sein und damit das Einbringen eigener Erfahrungen, Interessen, Motivationen etc. mit dazu.
Hinzu kommt: Viele der Skills, die im Rahmen der digitalen Transformation erforderlich sind, kommen heutzutage von außen, nämlich in Form von Beratung. Es wird Zeit, diese Expertise wieder verstärkt intern zu verankern. Denn so wichtig es ist, an der einen oder anderen Stelle auch Input von außen einzubeziehen, und so sinnvoll es sein kann, temporär benötigte Fachkenntnisse über Externe ins Haus zu holen — es braucht auch viel mehr interne Kompetenz, um die Externen steuern und ihre Arbeit wirklich bewerten zu können. Um eine eigene Position bilden zu können. Um auf Augenhöhe mitreden zu können und den regelmäßigen Culture Clash zwischen Externen und Internen zu vermeiden. Und um im Sinne des ›Produkt statt Projekt‹-Gedankens langfristig und dauerhaft das Ergebnis selbstständig betreuen zu können.
Deshalb gilt: Wir müssen die Wissensvermittlung bei Beratungsleistungen immer mitdenken und einfordern. Zusätzlich brauchen wir in Fachaufgaben wie auch in Methodenwissen und Soft Skills sichere und akzeptierte Freiräume für Fortbildung. Vor allem jedoch brauchen wir eine Kultur, die lebenslanges Lernen und Kompetenzbildung als wesentlichen Teil der Arbeit aktiv fördert. Aber Achtung: Digitale Kompetenz beinhaltet nicht nur Technik. Denn um gute digitale Lösungen zu konzipieren, brauchen wir auch Wissen über zum Beispiel Service-Standards, Standards für Barrierefreiheit oder Fragen der User Experience. Vor allem aber bedeutet es die Fähigkeit, Arbeitsweisen und Problemlösungsstrategien des digitalen Zeitalters nutzen zu können.

Nicht nur im eigenen Silo, sondern gemeinsam.
In der hierarchischen Organisation von Verwaltungsbehörden wird Wert darauf gelegt, dass in einem Vorgang alle zuständigen Organisationseinheiten beteiligt werden, bevor er der Leitung zur Billigung vorgelegt wird. Klassischerweise erarbeitet eine Facheinheit einen Entwurf einer Vorlage und stimmt ihn, wenn er fertig ist, auf schriftlichem Wege mit anderen Organisationseinheiten ab. Das ist am Ende für alle Beteiligten zeitraubend, denn gerade in kritischen Sachen braucht es oft mehrere Abstimmungsrunden, bis man sich auf einen (und nur selten den besten) Kompromiss geeinigt hat.
Kollaboratives, kooperatives Zusammenarbeiten sieht anders aus: Statt in Hierarchien und Beteiligungszwängen am Ende des Entwurferstellens setzen sich von Beginn an alle, die etwas beitragen können oder müssen, gemeinsam an den Entwurf — von der federführenden Fachabteilung über z.B. Datenschutz und Justiziariat bis hin zu anderen betroffenen Abteilungen oder Verwaltungsebenen. Konsequent durchgezogen, mit sinnvollen Besprechungsformaten und unter Nutzung moderner digitaler Kollaborationswerkzeuge entsteht so viel schneller und effizienter ein guter Vorschlag, den alle mittragen können — und der den Frust auf allen Seiten, wenn »die anderen« mal wieder Wesentliches unberücksichtigt gelassen haben, minimiert.
Auch eine andere Meetingkultur trägt hierzu bei. Zu oft sind Meetings ellenlang und haben zwar eine Agenda, aber es bleibt dennoch unklar, wer eigentlich warum dabei ist und welches Ergebnis erzielt werden soll. Erprobte Besprechungsformate und Workshop- Methoden können helfen, um in kürzerer Zeit bessere Ergebnisse zu erzielen. Seien es kurze Daily Standups anstelle wöchentlicher Referatsrunden. Seien es Hilfsmittel wie ein konsequentes Timeboxing. Seien es Strukturierungsansätze wie IDOARRT oder Lean Coffee. Oder seien es interaktive Workshops auf Basis von Design-Thinking oder Liberating Structures, Book Sprints für gemeinsame Vorlagen oder andere methodische Ansätze².
Im Übrigen: Gerade mit Blick auf begrenzte Ressourcen müssen wir auch konsequent das ›not-invented-here‹-Syndrom ablegen. Stattdessen müssen wir bevorzugt bestehende Dinge weiterentwickeln und auf bestehenden Lösungen und Standards, wie zum Beispiel Gestaltungsrichtlinien, aufbauen. Es braucht viel mehr Partnerschaften und Zusammenarbeit. Dazu gehört dann auch aktives Community Building als akzeptierte und mit Personal hinterlegte Aufgabe der Verwaltung — und zwar verwaltungsintern genau wie nach außen, zum Beispiel in Richtung Fachcommunity oder Zivilgesellschaft, wo es oft schon lange etablierte Strukturen gibt, die man gewinnbringend nutzen kann. Das ist bislang größtenteils alles andere als selbstverständlich. Aber nur gemeinsam werden wir die Herausforderungen, die auf uns zukommen, lösen können.

1—Natürlich als ›permanente Beta‹, die stetig und iterativ verbessert und weiterentwickelt werden darf und soll ;-)
2— Es gibt eine Vielzahl an Ansätzen, Hilfsmitteln, Denkschulen und Methoden. Im Internet findet eine Suche z.B. nach den genannten, kursiv gesetzten Begriffen oftmals sehr gute Beschreibungen. Auch Sammlungen wie Liberating Structures, das Handbuch ›Öffentliches Gestalten‹ vom CityLab Berlin und Politics For Tomorrow sind gute Anlaufstellen.


Über die Autor*innen: Simone Carrier ist freiberufliche Service Designerin in Berlin. Sie ist international für FutureGov tätig und berät Verwaltungen und Regierungen in Europa, Afrika sowie im Mittleren Osten. Simone Carrier hat gemeinsam mit Stephanie Wade den drei-tägigen Innovationsworkshop der civicChallenge Finalrunde 2021 auf der Belalp geleitet. www.simonecarrier.com

Jan-Ole Beyer arbeitet in der Verwaltung im Referat für Digitale Innovation und Transformation des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat in Deutschland.